Es war viel zu kalt für Ende November und da lag viel zu viel Schnee. Drei Stunden Fahrt lagen noch vor ihnen und der Tag war anstrengend gewesen. Die Frau hatte schon lange nicht mehr gesprochen. Sie hatte nur da gesessen, in ihrem Pelzmantel, und aus dem fahrenden Auto in den Schnee hinaus gestarrt. Hinaus in die kalten, blauorangen Lichter der Autobahnbeleuchtung, in den kurzen Abend mit seiner graukalten Dämmerung, in die leere Nacht. Sie hätte mit dem Mann reden können. Darüber, dass es zu kalt war für Ende November, darüber, dass zu viel Schnee lag und wie sehr sie die kurzen, schmutziggrauen Sonnenuntergänge im Novembernebel mochte. Es war ihr Geburtstag, sie war ein Novemberkind, und sie hatten ihn gefeiert, so wie man Geburtstage eben feiert. Er hatte ihr rote Rosen geschenkt, eine für jedes Jahr, in dem sie zusammen ihren Geburtstag gefeiert hatten. Das waren fünfundzwanzig rote Rosen. Er hatte ihr immer rote Rosen geschenkt. Nie hatte er einen Geburtstag vergessen und nie einen Jahrestag. Er hatte immer alles so gehalten, wie man es eben hält. Er war ein guter Fahrer; sicher, zuverlässig, vorsichtig und geübt. Er war der Mann, neben dem man im Auto getrost schlafen konnte und sie war sehr müde.
“Sollen wir da vorne raus für eine Tasse Kaffee und eine kleine Pause?”, fragte er. Sie nickte stumm. “Das wird uns gut tun”, sagte er, setzte den Blinker und fuhr auf den Parkplatz der Raststätte. Er suchte einen Platz nahe beim Eingang. Sie sollte nicht zu weit durch den Schneematsch gehen müssen in den schönen Schuhen und dem teuren, neuen Kleid. Er öffnete ihr die Tür und half ihr aus dem Wagen. Die Wolkendecke war aufgerissen und schenkte den Menschen auf dem Parkplatz den Blick auf die feine Mondsichel in ihrem milchigen Licht. Wind kam auf, ein beissend kalter Abgesang auf die Novemberstürme von anfangs Monat.
“Nimm die Rosen mit, du kannst sie nicht im Auto lassen! Es ist November und viel zu kalt für die Rosen”, sagte er. Die Frau versuchte zu lächeln. Sie öffnete die hintere Tür des Wagens, nahm den grossen Strauss mit den Rosen in den Arm und schloss die Tür. Das waren fünfundzwanzig rote Rosen in einem buntschimmernden Zellophan, oben eine Masche aus rotem Samtband und eine kleine, weisse Karte mit einem Herz. Der Kaffee und die Pause würden ihr gut tun. Im Laden hatte man die Dornen von den Rosen entfernt. Nichts sollte ihre Schönheit trüben. Im Restaurant, wo sie gegessen hatten, hatte jemand eine nasse Papierserviette um das untere Ende der Rosen gewickelt und eine Plastiktüte. Auf so einem langen Weg wären die Stiele sonst angetrocknet. Der Strauss wog schwer in den Armen der Frau. Er hatte ihr nie Sonnenblumen geschenkt oder Flieder. Der November war nicht der Monat für Sonnenblumen und Flieder. Rote Rosen waren aber immer passend. Manchmal hätte sie sich Veilchen gewünscht, Nelken, Astern oder auch nur ein paar Zweige von einem winterdürren Baum. Aber es war ihr Geburtstag und da musste es etwas Besonderes sein, wie jedes Jahr.
Die Raststätte war leer und warm, viel zu grell beleuchtet. Da war eine Weihnachtsdekoration an den Wänden; roter Plastik, grüner Plastik und kleine Töpfe mit Weihnachtsternen auf den Tischen. Aus unsichtbaren Lautsprechern ergoss sich synthetischfröhliche Weihnachtsmusik auf die Plastikdekoration. Sie bestellten Kaffee. Der Mann rauchte und redete. Ja, das Essen war wundervoll gewesen. Der ganze Tag war wundervoll gewesen. Er war so froh, dass da noch ein Tisch frei gewesen sei und das Essen sei ja wirklich vorzüglich gewesen. So speziell und einzigartig. Für sie wollte er immer nur das Beste. Man könne froh sein, wenn man da an einem Sonntag überhaupt noch einen Platz bekäme. Jeder wolle da hin. Ob ihr die Rosen gefielen und ob sie auch nicht zu kalt hätte. Die Frau versuchte ein Lächeln. Es war längst Zeit für die letzte Etappe der Heimreise.
Vor das letzte milchige Licht der feinen Mondsichel hatte sich eine Wolke geschoben und nun fielen wieder schwere Leintuchflocken aus dem Himmel. Draussen auf dem Parkplatz hatte der Wind einen winterdürren Ast von einem der Bäume neben die Beifahrertür geweht. Es war ein Buchenzweig von den hohen, schwarzgrauen Bäumen hinter der Parkplatzumzäunung. Ganz unten am Stiel war eine grünblaue Flechte und aussen an den Spitzen waren die leeren, struppigen Hülsen der Buchhecker. Der Zweig lag im schmutzigen Schnee neben dem Auto und das blauorange Licht der Autobahnbeleuchtung tauchte ihn in das kalte Licht der zu kalten Novembernacht. Die Frau legte den schweren Strauss mit den roten Rosen wieder auf den Rücksitz, zog ihren Mantel aus und legte ihn dazu. Dann schloss sie die Tür, hob den Buchenzweig auf, setzte sich in den Wagen und legte sich den schneenassen Zweig in den Schoss.
“Hast du nicht zu kalt, so ohne Mantel und dann noch das nasse Ding da auf den Beinen?” fragte der Mann.
“Novemberkinder frieren nicht”, sagte die Frau und lächelte.
20. April 2008
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wunderschöne Geschichte. Danke!
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